Walther von der Vogelweide und der Ort Walthers

Dort, im österreichischen Waldviertel, hat der große Dichter mit höchster Wahrscheinlichkeit seine Jugendjahre verbracht.

Der Superstar

Heute würde man Walther von der Vogelweide einen „Superstar“ nennen. Vor 800 Jahren war er, in unruhige Zeiten hineingeboren, für seine Kunst berühmt und gern gesehener Gast bei Bischöfen, Fürsten und Kaisern. Seine Gedichte finden sich noch 100 Jahre nach seinem Tod in Sammelhandschriften von Texten verschiedener Autoren, als Vorbild gehörte Walther zu den zwölf alten Meistern der Meistersinger, er wird als der bedeutendste deutschsprachige Lyriker des Mittelalters, als bedeutendste Dichter in deutscher Sprache vor Goethe angesehen.
1827 erschien die erste moderne Ausgabe von Karl Lachmann, Professor für Altphilologie und Altgermanistik in Berlin. Über Walther von der Vogelweide und seine Dichtung wurden seither zahllose Werke verfasst. Ein kompakter Überblick über Leben und Werk findet sich u.a. in Wikipedia. Manches Rätsel bleibt bestehen.
Was fasziniert an Walther von der Vogelweide auch im 21. Jahrhundert? Er war ein guter Dichter. In seinem Werk spiegeln sich die Grundfragen menschlicher Existenz ebenso wider wie politische Auseinandersetzungen seiner Zeit. Viele seiner Texte zeigen „Pfiff, Raffinesse, Engagement, vielleicht auch Schönheit“² .
Schon im 19. Jahrhunderts gab es in der Forschung Stimmen, die Walthers Herkunft aus dem österreichischen Herzogtum der Babenberger erkannten. Seit 1980 fand die Walther-Forschung zahlreiche schlüssige Indizien, dass Walthers Geburtsheimat nirgendwo sonst als im niederösterreichischen Waldviertel, in der Ortswüstung Walthers zwischen Zwettl und Allentsteig, etwa 110km nordwestlich von Wien, zu suchen ist. 

Die Indizien
Walther und das Waldviertel

  • Österreich
    „In Österreich lernte ich Dichten und Sprechen“, sagt Walther in einem seiner Gedichte. Das Herzogtum Österreich, reagiert von den Babenbergern, umfasste damals nicht einmal das gesamte heutige Niederösterreich, jedoch das gesamte Waldviertel.

  • Entlegene Region
    „Parzelliert sind die Felder, der Wald ist gerodet“, heißt es in Walthers „Alterselegie“. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts wurden nur noch in entlegenen Regionen – wie dem Waldviertel – Wälder gerodet.
  • Bekannte Vogelweide
    Zwischen Allentsteig (6,5km entfernt) und Stift Zwettl (11,5km Fußweg) findet sich auf historischen Landkarten sowohl ein um 1175 gegründetes, heute nicht mehr existentes Dorf Walthers als auch eine unmittelbar daran angrenzende Vogelweide im Ausmaß von fünf bis sechs km². Noch im 16. Jahrhundert ist Hans Hager von Allentsteig kaiserlicher Falknermeister.
  • Bruder Walther
    Eine mittelalterliche Handschrift im Zisterzienserstift Zwettl enthält die unvollständige Professformel „Ich, Bruder Walther“.
  • Bischof und Literatur
    Wolfger von Erla (1140-1218), Bischof der Diözese Passau, zu der Österreich damals gehörte, war mehrmals in Stift Zwettl zu Gast. Er war ein Freund der Literatur wie auch der Falkenjagd.
  • Zwettlerhof
    Stift Zwettl besaß einen „Zwettlerhof“ unmittelbar beim Wiener Stephansdom. Für den Bau des gotischen Chorraums von St. Stephan wurde dieses Gebäude Anfang des 14. Jahrhunderts abgetragen. Der nach Norden versetzte gleichnamige Nachfolgebau wurde im 19. Jahrhundert durch einen größeren Komplex ersetzt, der jedoch bis heute den Namen „Zwettlerhof“ trägt.
  • Herrschaftsbereich
    Wenn Walther von der Vogelweide in jungen Jahren (1195-1198) am Wiener Hof des Babenberger Herzogs Friedrich I. Aufnahme fand, war es naheliegend, dass er aus dessen Herrschaftsbereich kam.
  • Die Reisekosten
    Abgesehen von Aussagen über sich selbst in Walthers Texten bzw. Erwähnungen bei seinen Zeitgenossen, gibt es nur ein einziges schriftliches Lebenszeugnis zu Walther: am 12. November 1203 notiert der Passauer Bischof Wolfger von Erla in der Aufstellung seiner Reisekosten in Zeiselmauer bei Tulln, dass er „dem Sänger Walther von der Vogelweide für einen Pelzrock fünf lange Schillinge“ gegeben hat. Walther befand sich in der Begleitung des Bischofs auf einer Visitationsreise durch dessen Diözese (und nicht auf dem Weg zur Hochzeit von Herzog Leopold VI. mit der aus einer byzantinischen Adelsfamilie stammenden Theodora Angela). Das Dokument zeigt das Naheverhältnis und die Wertschätzung Wolfgers für Walther. Der Dichter rühmt seinen Förderer noch Jahre später als „guten Patriarchen, frei von Unaufrichtigkeit“.
  • Im Donauraum
    Walther verwendet in seinen Gedichten gerne die Langzeile, die typisch für die „Nibelungenstrophe“ und den frühen Minnesang im österreichischen Donauraum ist.
  • Nibelungenlied
    Das Nibelungenlied, ein mittelalterliches Heldenepos, entstand zwischen 1198 und 1204 im Umfeld des Passauer Bischofs Wolfger von Erla. Das ohne einen Autorennamen überlieferte Werk dürfte eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Dichter gewesen sein. Es ist schwer vorstellbar, dass Walther von der Vogelweide nichts von der Entstehung des Werkes wusste, möglicherweise war er sogar an der Endredaktion des Werkes beteiligt.
  • Im Alter
    In seiner „Alterselegie“ beklagt Walther, dass ihm Land und Leute in seiner Heimat fremd und seine ehemaligen Spielgefährten alt und träge geworden sind. Der Schluss liegt nahe, dass Walther seine Heimat lange nicht gesehen hat, weil sie abseits der wichtigsten Verkehrswege und Machtzentren lag – was für das Waldviertel bis heute gilt.
Walthers Land

Walther wird in eine politisch, sozial- und kulturgeschichtlich bewegte Zeit hineingeboren. ³
Um das Jahr 1200 leben in Deutschland etwa 8 Millionen Einwohner. Der Begriff „Deutschland“ hat eine andere Bedeutung als heute: 920 findet sich zum ersten Mal die Bezeichnung „Regnum teutonicum“ („deutsches Reich“), Mitte des 12. Jahrhunderts kommt der Namenszusatz „Heilig“ hinzu, Mitte des 13. Jahrhunderts der Zusatz „Römisch“ und im ausgehenden 15. Jahrhundert „Deutscher Nation“ (somit „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“). Die Bezeichnung „Teutschland“ für die vorher so bezeichneten „deutschen Lande“ wird erst im 16. Jahrhundert üblich. Dieses Reich umfasst – zur Zeit seiner größten Ausdehnung im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts – Teile der heutigen Länder Frankreich, Niederlande, Polen, Tschechien, Österreich, Slowenien sowie große Teile von Italien und die Insel Sizilien.

(Bild:  Das Heilige Römische Reich zur Zeit von Kaiser Friedrich II. (1194-1250) bzw. Mitte 13. Jahrhundert (ab ~1600 auch „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“). Kaiser Friedrich II. schenkte Walther 1220 das Lehen!)
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Kaiser und Kirche

Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 30 bis 35 Jahren, auch wenn, wie in Schon in der Antike, von einzelnen – so auch von Walther – ein hohes Alter erreicht werden kann. Ein Großteil der Bevölkerung lebt auf dem Land und von der Landwirtschaft, nur etwa 20% leben in Städten. In der stark hierarchisch geprägten Gesellschaft gibt es v.a. im Bereich des Klerus und des Adels (also der kirchlichen und weltlichen Macht) eine ansehnliche soziale Mobilität. Der Adel ist eine keineswegs homogene soziale Gruppe, von Angehörigen des niederen Rittertums bis zum Kaiser. Die Ministerialen, gebildete Beamte, gewinnen an Gewicht und dringen in die Welt des (Geburts-) Adels vor.
Die Kirche hat größten Einfluss auf die Menschen, zugleich mehrt sich Kritik an deren Machtstreben und an Missständen – wie etwa die Papstkritik in Walthers Lyrik – oder in Form von „Ketzer“-Bewegungen (von Katharer „die Reinen“), worauf die Amtskirche mit Unterdrückung reagiert und einen Machtkampf in alle Ebenen der Gesellschaft hineinträgt.
Zur Demonstration von Macht gehören große Bauten wie Kathedralen und Klöster mit großartiger christlich geprägter Kunst.
Im Bereich von Technik und Naturwissenschaften wird um 1190 der Kompass aus China übernommen, Alkohol wird als Heilmittel verwendet und ein Kaiser selbst, Friedrich II., verfasst mit seinem sechsbändigen Buch über die Falkenjagd ein auf Beobachtung beruhende ornithologisches Standardwerk. 

(Bild: Friedrich II. mit seinem Falken, aus seinem Buch De arte venandi cum avibus - „Über die Kunst mit Vögeln zu jagen“)

Unruhige Zeiten

Vor allem wird Walthers Lebenszeit von der langdauernden Auseinandersetzung zwischen den Herrschergeschlechtern der Staufer und der Welfen geprägt. In diesen mischt sich das Oberhaupt der Kirche, der Papst, ein – mit der Frage, ob die geistliche (kirchliche) oder die weltliche Macht Vorrang hat. Thronstreitigkeiten führen zu wechselnden europäischen Bündnissen.

Dazu kommen in Walthers Lebenszeit drei Kreuzzüge⁴. Sie sind nicht nur bedeutende religiöse Bewegungen des Mittelalters, sie gehorchen auch wirtschaftlichen Interessen, innenpolitischen Strategien und militärischer Aggression. Diese Kreuzzüge prägen die mittelalterliche Gesellschaft in weiten Bereichen. Aufrufe zu Kreuzzügen und die Rechtfertigung davon reichen bis in die Literatur der Zeit, in die Lyrik, auch bei Walther von der Vogelweide.
Einer der Höhepunkte ist die Eroberung und Plünderung des christlichen Konstantinopel (heute Istanbul), der Hauptstadt des Byzantinischen Reichs, durch christliche Kreuzritter im April 1204 – weil die Venezianer dort einen Machtwechsel herbeiführen wollten. 

(Bild: Die Einnahme von Jerusalem 1099. Spätmittelalterliche Buchillustration)

Walther und seine Zeit der Umbrüche

Jahr 1050 n.Ch.
1054 Kirchenspaltung zwischen römisch-katholischer und griechisch-orthodoxer Kirche (Byzanz / Konstantinopel, heute Istanbul)
Das Gebiet um Allentsteig wurde 1056 durch eine Königsschenkung der Babenberger an das Geschlecht der Kuenringer übertragen: Azzo von Meißen (in Sachsen) erhält Ländereien um Allentsteig. Entstehung der Burg zur Sicherung der Handelswege.
1096 Beginn der Kreuzzüge. Die von Mohammed 630 in Mekka begründete Religion des Islam wird zur Bedrohung für Konstantinopel. Da sich auch die heiligen Stätten des Christentums in Jerusalem in den Händen der Araber befinden, ruft Papst Gregor VII. zum Kreuzzug auf.
1096-1099 1. Kreuzzug (15.7.1099 Erstürmung Jerusalems)


Jahr 1100 n.Ch.
1125-1190 Deutsches Reich der Staufer-Könige
1137/1138 gründete Hadmar I. aus dem Geschlecht der Kuenringer das Zisterzienserstift Zwettl (12km von Walthers entfernt). 


Jahr 1150 n.Ch.
1150 erste urkundliche Nennung der Burg Allentsteig (6 km von Walthers entfernt).
1152-1190 Friedrich I. Barbarossa. Die Stauferzeit erreicht ihre Blüte in Baukunst, höfischer Ritterkultur und Wissenschaft.
1159 In Stift Zwettl wird die erste Kirche und das Kloster durch Bischof Konrad II. von Passau, einen Sohn des Babenberger Markgrafen Leopold III. des Heiligen, geweiht.

Von Dezember 1192 bis März 1193 hält Hadmar II. von Kuenring, ein Ministeriale der Babenberger, Richard Löwenherz, König von England, auf Burg Dürnstein gefangen. Bei der Freilassung des Königs vermittelt Hadmars Freund Bischof Wolfger von Passau. 


Jahr 1170 n.Ch.
Um 1170 Geburt Walthers (im nördlichen Waldviertel)
Vor 1190 lernt Walther vermutlich in einem Kloster (Zwettl?) Lesen und Schreiben sowie die lateinische Sprache und Literatur. Auch eine musikalische Ausbildung ist anzunehmen. Möglicherweise wird er dort vom Passauer Bischof Wolfger von Erla, zu dessen Diözese weite Teile des heutigen Niederösterreichs gehören, entdeckt.


Jahr 1190 n.Ch.
Um 1190 Walther kommt an den Hof der Babenberger in Wien - seine Heimat wird daher zum Machtbereich der Babenbergerherzöge gehört haben. Er genießt deren Förderung - insbesondere durch Friedrich I. - und beginnt zu dichten.

Um 1195 Walther lernt Reinmar von Hagenau am Wiener Hof kennen und nimmt vermutlich bei ihm Unterricht - bald dürfte es zu Spannungen zwischen Schüler und Lehrer gekommen sein.
April 1198 Walthers Förderer Herzog Friedrich I. stirbt auf einem Kreuzzug. Nachfolger wird dessen Bruder Herzog Leopold VI. und Walther muss den von ihm als „wonniglich“ bezeichneten Wiener Hof verlassen.


Jahr 1200 n.Ch.
Nach 1198, nach dem Tod Herzog Friedrichs I., reist Walther in den Deutschen Landen herum und nimmt in seiner Spruchdichtung zu den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst Stellung.
Zwischen 1198 und 1204 entsteht das Nibelungenlied, ein mittelalterliches Heldenepos – im Umfeld des Passauer Bischofs Wolfger von Erla, möglicherweise unter Beteiligung von Walther von der Vogelweide.
1198-1203 Mehrere Besuche Walthers am Wiener Hof

Um 1200 Entfaltung der Ritterkultur, verstärkter Burgenbau in Europa
1202 Arabische Zahlen werden in Europa durch den Mathematiker Leonardo Fibonacci eingeführt.
Frühjahr / Sommer 1203 oder 1204 Hochzeit Herzog Leopolds VI. mit der byzantinischen Prinzessin Theodora in Wien. Der Dichter des Nibelungenliedes dürfte (im Gefolge des Passauer Bischofs Wolfger?) daran teilgenommen haben und ließ die Beschreibung detailreich in die Dichtung, die um diese Zeit vollendet wurde, einfließen.
1204 Eroberung von Konstantinopel durch Truppen des Vierten Kreuzzuges und grauenhafte Plünderung der Stadt, Untergang der Familie von Theodora Angelina, der Ehefrau von Herzog Leopold VI., (vorläufiges) Ende des orthodoxen Byzantinischen Reiches.

Winter 1203 Walther nimmt im Gefolge des Passauer Bischofs Wolfger an einer Reise zur Visitation in seiner Diözese teil.
12.11.1203 Das einzige außerliterarische Zeugnis zu Walther findet sich in einer Reiserechnung des Passauer Bischofs Wolfger, einem Förderer der Künste: in Zeiselmauer bei Tulln schenkt er „dem Sänger Walther von der Vogelweide für einen Pelzrock fünf lange Schillinge.
Um 1207 Walther beklagt den Tod Reinmars von Hagenau, vermutlich Besuch in Wien. 


Jahr 1210 n.Ch.
1213/15 Walthers „Leich“, ein Gedicht mit frei wechselnden Strophen, entsteht.
1210-1220 Dichtung von traditionellen Minneliedern vermutlich als Auftragswerke
1214 Walther am Hof Herzog Bernhards von Kärnten in St. Veit

1218/1228 Lieder von Walther über wahre und falsche Minne
1218-1229 Fünfter Kreuzzug


Jahr 1220 n.Ch.
1219/1220 Walther am Hof Herzog Heinrichs von Mödling
1220 Kaiser Friedrich II. schenkt Walther ein Lehen, vermutlich im Würzburger Viertel am Sand (Curia dictus Vogelweide). 

1227-1254 erbitterter Machtkampf der Staufer mit dem Papsttum, der mit dem Tod des Stauferkönigs Friedrich II. im Jahre 1250 endet. Sein Tod beendet gleichzeitig die Epoche der Staufer.

Um 1227 entsteht Walthers „Alterselegie“ mit Hinweisen auf seine Heimat, die er zuvor lange nicht mehr gesehen haben dürfte.


Jahr 1230 n.Ch.
Um 1230 stirbt Walther vermutlich in Würzburg und wird im Lusamgärtlein des Stiftes Neumünster begraben. Sein Grab soll noch im 18. Jahrhundert erhalten gewesen sein.


Jahr 1250 n.Ch.
Beginn der Inquisition, der Verfolgung von Menschen, die von den katholischen Glaubenssätzen abweichen. 

Allentsteig wird ein Zentrum der im Mittelalter beliebten Falkenjagd („Kaiserliche Falknerei“).
Unter Abt Ebro (1273-1304) erreicht das Stift Zwettl einen ersten Höhepunkt in seiner Entwicklung. Eine bedeutende Schreibstube (Scriptorium) sorgt für ein rasches Anwachsen des Buchbestandes.
Walthers, nahe Bernschlag gelegen, wird 1275 erstmals urkundlich erwähnt, als Friedrich von Liechtenstein Grundstücke an das Kloster Imbach bei Krems verkaufte.  ⁵